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BRIEF AN DIE MUTTER

Erinnerst du dich?

An einem Frühlingsanfang hast du ein herziges, kleines Mädchen zur Welt gebracht. Dein erstes Kind. Die Geburt war für uns beide nicht einfach. Hast du jemals daran gedacht, dass es schmerzvoll sein könnte, mit einer Zange gepackt und ans Licht gezerrt zu werden? Hatte ich oft geweint, am Anfang meines Lebens? Du fandest es herzig, wenn ich herzzerreissend weinte, damals noch – du fotografiertest mich. Jetzt, da ich dir diesen Brief schreibe, lerne ich sie wieder kennen, diese untröstliche Verzweiflung, keine Mutter zu haben. JA, DU WARST MIR KEINE MUTTER!

 

Bald sind die ganze Last und der Kummer des Lebens über mich hereingebrochen. Ich konnte nur noch weinen. Täglich. Das ging dir gewaltig auf die Nerven, du hast gedroht, mich zu schlagen, damit ich wisse, weshalb ich weine. Gefragt hast du nicht. Ich war dir nur lästig. War dir jemals bewusst, dass ein Kind vor dir stand, DEIN KIND, das die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit kaum mehr ertrug? Das sich fragte, was es denn noch brauche, bis man sterbe?

 

Ich war dein Kind, neugierig, wissbegierig. Stolz auf das, was ich selber herausgefunden hatte. Aber zutiefst einsam, allein mit meinen Fragen. Ich wünschte mir ein liebevolles Du, das mir die Welt erklärte. Stattdessen baute ich Kartenhäuser, die immer wieder in sich zusammenfielen. Ich war verzweifelt, verstand die Welt nicht mehr, verstand mich selber nicht mehr, hielt mich für lebensuntauglich.

 

Du hattest keine Ahnung, was in mir vorging, wolltest es nicht wissen. Du glaubtest, mich besser zu kennen als ich mich selber. Du hast über mich verfügt, während mein inneres Ich immer kleiner und ärmer wurde. Du hast mich Fremden ausgeliefert, die mir meine Seele, meine Gedanken raubten. Ich bemühte mich, war loyal, auch zu dir. Du aber warst nicht mit mir.

 

Ich sehnte mich so nach Geborgenheit. Ja, vielleicht hätte ich, das traurige Kind, mich gewehrt, wenn du mich hättest in die Arme nehmen wollen. Aber ich hatte mich danach gesehnt, Tag und Nacht, wenigstens über den Kopf gestreichelt zu werden. Das kam vor in den Geschichten über die traurigen und einsamen Kinder, denen das Leben übel mitgespielt hatte. In den Büchern, die ich verschlang, fand sich immer eine Person, die den Tränen des Kindes glaubte.

 

Du hattest mir eingeredet, mir gehe es gut, ich hätte es schön. Warum aber fühlt sich Liebe und Dankbarkeit so schlecht an? Verstanden zu werden, verstanden ohne Worte, war mein Traum, mein Wunsch, meine Sehnsucht. Vorbehaltlos angenommen zu werden. Nein, nicht so, wie ich war, denn ich wusste längst nicht mehr, wie ich war. Ehrgeizig, eine Giftspritze, „gerade recht“, das war ich nicht.

 

Die unerfüllte Sehnsucht muss ich bis heute schützen mit Leere, mit formlosem Grau. Ich habe Angst, manchmal Panik, sie werde nie, nie, nie erfüllt. Deshalb wollte ich nie erwachsen werden und musste es doch. In der gefühllosen Haut einer Erwachsenen bin ich immer noch das Kind, ein VERLORENES KIND.

 

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