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ZEIT, NEU ZU VERHANDELN

Als Mensch ausgebremst,
nicht erst seit Corona.

 

«Willkommen im Zwischenraum der Gesellschaft!» Am Freitag der ersten Corona-Lockdown-Woche hatte ich Geburtstag. Es war der 20. März, Frühlingsanfang. Boxenstop – Aufatmen – Chance auf Neubeginn. Endlich – nach dem scharfen kapitalistischen Neoliberalismus, der die Schweiz mehr als ein anderes Land im Würgegriff hat. Selber verkörpere ich das aktuelle Diskriminierungspaket: 50plus, Frau, Schweizerin ohne Migrationshintergrund und hochgebildet – Handelsdiplom Töchterschule der Stadt Zürich (1976), B-Matur Kantonale Maturitätsschule für Erwachsene (1982), ETH-Master in Agrarwissenschaften (1987), dazu viel Autodidaktik. Seit 2013 bin ich ausgesteuert, das heisst, vom eigenen Staat desintegriert, in den Zwischenraum der Gesellschaft verbannt, keine Kaffeepause mit anderen Menschen, nicht einmal Homeoffice, weniger als Hartz IV.

 

Zu Hause fällt mir die Decke auf den Kopf. 2015 fange ich an der Universität Zürich ein Theologiestudium an. Der Traum vom Pfarramt platzt, denn die Kirche ist keine valable Arbeitgeberin für Menschen wie mich. Ich befasse mich am Open Forum des Weltwirtschaftsforums in Davos (WEF) mit Careökonomie, komme zum Schluss, dass die Wirtschaft für den Menschen und seine Lebenswelt da sein sollte, und nicht umgekehrt der Mensch für Zwecke der Materialanhäufung und Gewinnmaximierung instrumentalisiert werden sollte. Dann kommt die Covid-19-Pandemie. Die Wirtschaft jault auf, erfindet die «Corona-Krise», nimmt den Menschen die humanitäre Krise aus der Hand und erklärt sie zur Wirtschaftskrise, schreit nach Geld.

 

«Wer hat, dem wird gegeben, wer nicht hat, dem wird noch genommen, was er nicht hat.» Das steht in drei von vier Evangelien. Bereits in biblischen Zeiten dieselbe Sozialkritik: Im römischen Reich des 1. Jahrhunderts nach Christus ging es um Macht und Geld: Wer Geld hat, der hat Macht. Demokratische Gewaltentrennung wird angesichts der Wirtschaftshörigkeit von Exekutive, Legislative und Judikative obsolet. Ich bin seit September 2019 ganz ohne Einkommen. Die Arbeitslosenkasse verweigert mir die Aufnahme – obwohl ich trotz Aussteuerung in den letzten zwei Jahren einen befristeten Job von 10 Monaten ergattert hatte. Es zählt einzig, dass mir 2 Beitragsmonate fehlen! Im Januar 2020 reiche ich Beschwerde beim Sozialversicherungsgericht ein. Sie bleibt liegen, weil die Richter_innen zu Hause bleiben und Kinder hüten dürfen. Wie ich durch das Radio irgendwann im April erfahre.

 

Eine Mitteilung bekomme ich nicht. Die Abweisung der Beschwerde «mangels Erfüllung der Anspruchsvoraussetzung der Betragszeit» erfolgt Mitte Mai 2020. Obwohl sich die Welt grundlegend verändert hatte, obwohl jetzt Zeit ist, neu zu verhandeln: «Dagegen vermögen auch die von der Beschwerdeführerin weitschweifig verfassten weiteren Ausführungen nichts zu ändern», halten die Richter_innen süffisant fest.

 

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